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Emigrant   f ü r   Deutschland
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Politische Arteriosklerose
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Emigrant f ü r Deutschland 

So hat es begonnen.
Am 13. Oktober 1933, einem düsteren Freitagnachmittag, kam ich in Prag an, namenlos und namenlos allein, mit einer nur sehr oberflächlichen Kenntnis der tschechischen Sprache.
Mein Plan war, im deutschen Sprachbereich des Nachbarlandes, vor allem in Prag selbst, politisch-literarisch zu arbeiten. Um aber meine weiterhin in Heilbronn lebende Mutter vor Übergriffen zu schützen, benötigte ich einen Decknamen, einen „nom d’émigration“. Geboren war ich als Friedrich Wallensteiner. Die dreizehn Buchstaben meines Nachnamens zerlegte ich, wirbelte sie durcheinander und erhielt dadurch „Walter Nielsen“. Der neue Tarnname war geschaffen: Fritz Walter Nielsen, der dann 22 Jahre später durch amerikanische Einbürgerung zum offiziellen Passnamen wurde – mit einer kleinen sprachlichen Änderung: aus Fritz wurde Frederic.
Nach dieser nicht unberechtigten und, wie sich zeigen sollte, wirksamen Schutzmaßnahme bemühte ich mich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in der tschechoslowakischen Hauptstadt um Verbindungen mit Zeitungs- und Zeitschriftenredakteuren, mit Schriftstellern, Emigranten und sympathisierenden Pragern.
Dass es nicht leicht sein würde, ohne jede Empfehlung, ohne Beziehungen irgendwelcher Art in der Fremde festen Fuß zu fassen, damit hatte ich gerechnet. Nicht vorgesehen hatte ich dagegen die misstrauische, ja feindselige Abwehr, auf die der zwar politisch engagierte, aber parteilose Einzelgänger unter den neugeschaffenen Verhältnissen gerade bei denen stoßen würde, die er für Schicksalskameraden halten musste. Erst Monate später, durch eigenes Erleben, dämmerte es mir, wie berechtigt diese oft verletzende Ablehnung gewesen war. Denn immer wieder versuchten Agenten – als Emigranten getarnt – sich in die Reihen der Hitlergegner einzuschleichen und ihren Aufenthalt, ihre Arbeitsweise und insbesondere ihre Kontakte mit den noch in der Heimat lebenden Genossen auszukundschaften und ihren Auftraggebern drüben zu melden.
Verständlich daher, dass ein völlig unbekannter junger Mann, der ganz offen zugab, freiwillig emigriert zu sein, nur um nicht mehr in dem Konzentrationslager Deutschland leben zu müssen, und der sogar stolz darauf zu sein schien, nie einer Partei angehört zu haben, - dass dieser junge Mann anfangs überall auf eisige Mienen stieß und verschlossene Türen fand. Ich war, so entdeckte ich entsetzt, für die anderen ein potenzieller Spitzel und lernte dadurch eine Isolation kennen, in die ich auch später, als ich mich längst durchgesetzt hatte, immer wieder flüchtete. Mehr und mehr mied ich die ebenso wortreichen wie ereignislosen Emigrantengespräche in verqualmten Kaffeehäusern, bei denen jeder jedem vergangene Versäumnisse und den Verrat an der einen oder anderen Idee vorwarf, statt erst einmal die eigenen Fehler zu suchen und eine gemeinsame Plattform für zukünftige Aktionen zu finden.
Kein Wunder, dass mich schon bald ein zerrendes Heimweh nach der wohl für lange, vielleicht sogar für immer verlorenen Heimat überfiel. Jedes deutsche Wort, das auf der Straße an mein Ohr drang, jeder deutsche Wagen mit den heimatlichen Erkennungszeichen ließen mich den erlittenen Verlust stets aufs Neue empfinden. Sogar den Wolken, die über mich nach Westen dahinsegelten, folgten nicht selten meine sehnsuchtschweren Blicke.
So nahte Weihnachten 1933, das erste in der Fremde.
Plötzlich, von einem Tag zum anderen, meinte ich, die Einsamkeit nicht mehr ertragen zu können und entschloss mich, wider besseren Wissens, zur Heimkehr. Vorsichtig und, wie ich glaubte, insgeheim bereitete ich meine Abreise vor. Dann überraschte mich meine Wirtin zwei Tage vor der Abfahrt mit der Nachricht, ein Mann habe sie während meiner Abwesenheit aufgesucht und sich nach dem genaueren Zeitpunkt meiner Rückfahrt erkundigt. Dann sei er wieder gegangen. Sie wisse nicht, wer es gewesen sein könne. Er habe auch nichts hinterlassen.
Der geheimnisvolle Besuch erschreckte mich. War es ein Spitzel, der mich denunzieren, meine Rückkehr melden wollte? Erwartete mich an der Grenzstation die Gestapo?
Ich bekam Angst und änderte, in letzter Minute, meine Pläne. Ich blieb. Um aber meine Sehnsucht zu betäuben, stürzte ich mich nun erst recht in die politische Arbeit, griff immer wieder zur Feder, hielt Vorträge in deutscher, später auch in tschechischer Sprache. Die drohenden Gefahren suchte ich aufzuzeigen, zu warnen und aufzuklären. Doch nur allzu oft ergriff mich ein lähmendes Gefühl der Zwecklosigkeit meines Tuns, wenn ich in Stunden einsamer Niedergeschlagenheit daran dachte, wie dieses Regime von Mördern und Erpressern auf internationaler Ebene täglich an Ansehen gewinnen konnte. Dann versank ich in Resignation, aus der ich im Juli 1936 durch einen Schuss aufgeschreckt wurde, dessen Widerhall mich noch heute, fünfzig Jahre danach, veranlasst, in dieser schlechtesten aller Welten gegen Sturheit und Unmoral politischer Parteien, gegen Heuchelei und Fanatismus kirchlicher Institutionen, vor allem aber gegen das gewissenzerstörende Wohlstandsdenken und die selbstmörderische Dummheit betrogen-sein-wollender Untertanen Stellung zu nehmen: in Appellen, Artikeln, Briefen und in Tagebuchaufzeichnungen; zur Warnung für eine jüngere Generation, die – unfähig oder unwillig, aus den tödlichen Fehlern der Vergangenheit zu lernen – im Begriffe steht, blind in den Abgrund einer atomaren Totalvernichtung zu stürzen.

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