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Führerlos im Jenseits
Zu denken, dass (Den Opfern Heinrich Himmlers)
Vision
Ein einsam Kreuz
Deutschland
Ausklang
Friedrich Müller
Und wieder
Auf drei Rädern (Jan Neruda)
 

Führerlos im Jenseits

Der große Stern am Firmament da droben,
das ist der sogenannte Erdenball.
Wie hat sich alles sonderbar verschoben.
Sieht ulkig aus von hier, das Weltenall.

Da liegt Europa. Und der Stiefel dürfte
Italien sein (Italien: Mailand, Rom,
Chianti – den ich immer gerne schlürfte –
und Maccaroni, Pisa, Engelsdom).

Und dort ist DEUTSCHLAND! Deutschland über alles.
Mein liebes Land. Ach Gottchen, bist du klein.
Man sieht kein Braun. Gottlob! Und schlimmstenfalles,
wenn man die Ohren spitzt, hört man „ihn“ schrein.

Ganz unten links, da war man einst zu Hause.
„Zu Hause!“ Wie das klingt. Sentimental.
Sie sitzen jetzt daheim, zur Abendjause.
Und ich bin tot. – Zum Heulen. – Ach egal.

Wer tot ist, hat es gut, der muss nicht leben.
Und über Tote hat man keine Macht.
In völlig führerlosen Räumen schweben
sie frei durchs Dunkel. – Deutschland, gute Nacht!

Anfang

Zu denken, dass
(Den Opfern Heinrich Himmlers)

Zu denken, dass, wenn sich am frühen Morgen
das Licht der Sonne tief zur Erde neigt –
so mancher von den siebzig-siebzig-tausend
für immer schweigt!

Zu denken, dass – wenn man auf fremdem Boden
in fremder Stadt durch fremde Straßen irrt –
so mancher von den siebzig-siebzig-tausend
erschlagen wird!

Zu denken, dass – wenn man in heißer Sehnsucht
an seine Heimat, an sein Deutschland denkt –
so mancher von den siebzig-siebzig-tausend
sich selbst erhängt!

Zu denken, dass – wenn man (um nicht zu denken)
die leeren Gläser stets aufs Neue füllt –
so mancher von den siebzig-siebzig-tausend
in Qualen brüllt!

Zu denken, dass – wenn man dann endlich langsam,
was man erlebte, hörte, sah, vergisst -
dass siebzig-siebzig-tausend leiden, wie es
undenkbar ist!

Anfang

Vision

Achtung, Gas!
Sirenen gellen
aufwärtsheulend durch die Nacht;
von den todbedrohten Straßen
flüchten, stürmen, hasten, rasen
Menschen in den Gasschutzschacht.

Achtung, Gas!
Die Glocken bellen
von den Türmen, laut und wild,
dumpf im Chore heulen, klagen,
brüllen Menschen, und sie tragen
einer Maske Totenbild.

Achtung, Gas!
Die Schwaden schleichen
mordbereit von Haus zu Haus;
Schüsse krachen, Bomben dröhnen,
Menschen keuchen, ächzen, stöhnen,
würgen sich die Lungen aus.

Morgen naht!
Die Nebel weichen;
zögernd steigt das frühe Licht
und entblößt im blutigroten
Strahl der Sonne einer toten
Menschheit furchtbar Angesicht.

Anfang

Ein einsam Kreuz

Ein einsam Kreuz, im welschen Land,
ein Bauersmann beim Pflügen fand.

Ein Kreuz aus Holz, auf freiem Feld;
vier Worte nur: „Hier ruht ein Held“.

Zu gleicher Zeit im deutschen Land
ein junges Weib im Witwenstand.

Zu gleicher Zeit im deutschen Land
zwei Kinder ohne Vaterhand.

Ein kleines Bild im Trauerflor,
die Kinder stehen stumm davor.

Und an dem Bild aus großer Zeit
das Eisenkreuz der Tapferkeit.

Das Weib nimmt oft, in Schmerz gebannt,
des Toten Bild und Kreuz zur Hand.

In Händen hält sie all ihr Glück:
ein Blatt Papier – ein Eisenstück.

Ein eisern Kreuz – sein höchster Stolz;
ihr größter Schmerz - ein Kreuz aus Holz...

Der Bauer pflügt, der Bauer mäht,
der Wind um volle Garben weht.

Ein einsam Kreuz, im welschen Land,
liegt sinnlos dort am Feldesrand.

Anfang

Deutschland

Du fühlst,
wenn du im fernen Land
ein Fremder bist,
dass deines Lebens stärkstes Band
die Heimat ist.

Du fühlst,
wenn dich in dunkler Nacht
der Schlummer flieht,
dass eine laute Sehnsucht wacht
und heimwärts zieht.

Du fühlst,
wenn dich der Zeiten Joch
ins Elend trieb,
dass deine ganze Seele doch
in Deutschland blieb!

Anfang

Ausklang

Alles, was das Schicksal bringt,
Frieden oder Streit,
was dir froh zu Herzen dringt,
was dich tief zu Boden zwingt,
alles mündet und verklingt
in das Meer der Zeit

Alles, was das Leben sendet,
Segen oder Leid,
ob der Sonne Glanz dich blendet,
ob dein Weg sich abwärts wendet,
alles löst und alles endet
Ewigkeit!

Anfang

Friedrich Müller

Friedrich Müller war ein Deutscher,
war ein deutscher Untertan,
und ein strenger und genauer
Kontrolleur der Straßenbahn.

Fuhr laut Vorschrift seine Strecken
als ein Stück vom Stadtverkehr,
hatte Weib und Kind zu Hause,
und er liebte sie gar sehr.

So vergingen froh-bescheiden
ein paar Jahre Lebenslauf;
plötzlich stieg am Völkerhimmel
eine schwarze Wolke auf.

Eines Tages lag zu Hause
ein Befehl vom Militär;
Friedrich Müller las voll Schrecken,
und sein Weib erschrak noch mehr.

Schon in nächster Morgenfrühe
war die Zeit der Trennung da;
Müller küsste seine Lieben,
die er nie mehr wieder sah.

Mit den andern, grau gekleidet,
fuhr er endlos Tag und Nacht
ohne Aufenthalt nach Westen
in das Grauen, in die Schlacht.

Seine Angst war ungeheuer,
als er in der Hölle stand;
furchtbar schien ihm der Gedanke
an den Tod fürs Vaterland.

Alles stürzte jäh zusammen,
was er bisher blind geglaubt;
Friedrich Müller ward ein Mörder,
denn das Morden war erlaubt.

Täglich schoss er viele Feinde
in die Stirne, durch die Brust;
anfangs nur mit Widerwillen,
aber später dann mit Lust.

Wenn ein Gegner unvorsichtig
über seinen Graben stieg,
zielte Müller, schoss und traf ihn,
dass er bald für immer schwieg.

Seine Scharfschützheldentaten
wurden höheren Orts bekannt,
und ein Kreuz aus schwarzem Eisen
war der Lohn von Kaisers Hand.

Doch schon nahte das Verhängnis,
das ihn ins Verderben stieß,
denn er stürmte mit der Truppe
eine Stadt, die Loewen hieß.

Lange kämpften die Soldaten;
in den Straßen floss das Blut;
sie verbrannten viele Häuser,
teils aus Notwehr, teils aus Wut.

Als die Schlacht des Nachts zu Ende,
fing man ein paar Weiber ein,
stellte rasch sie vor den Richter,
weil sie Franktireure sei’n.

Andern Tages, noch im Dämmern,
hob ein grauses Schlachten an;
jedem dieser Weiber gab man
ein Kommando von sechs Mann.

Auch Fritz Müller ward die Ehre
eines Schützen zuerkannt;
mit fünf andern stand er, zielend
auf ein Weib am Straßenrand.

Plötzlich sah er (niemand wusste
später je, was ihm geschehn)
nebelhaft durch einen Schleier
dort sein Weib am Graben stehn.

Um sie standen stumme Männer
- Schrecken fuhr ihm durchs Gehirn -,
denn die Männer hatten Wunden
auf der Brust und auf der Stirn.

Alles schwamm ihm vor den Augen,
und ihm wurde heiß und kalt;
„Feuer!“ hörte er von weitem,
und von ferne, wie es knallt‘.

Von fünf Kugeln wohl getroffen
fiel das Weib beim Morgenrot;
mit der sechsten schoss Fritz Müller,
- doch er schoss sich selber tot.

Von dem sonderbaren Vorgang
sprach man lang noch überall.
In der Meldeliste stand nur:
Müller, tot durch Unglücksfall.

Als sein Weib die Nachricht hörte,
saß sie da und weinte sehr;
hieß nach einem Jahr Frau Schulze,
denn der Müller kam nicht mehr.

Dieses ist die Trauerkunde
von Fritz Müllers Seelennot;
sei vernünftig, Mensch, und schieße
weder dich noch andre tot.

Anfang

Und wieder

Und wieder stürmt mit Blut und Brand
der Krieg, der wilde Krieg ins Land.

Und wieder zieht bei Tag und Nacht
ein stummes Heer ins Grab der Schlacht.

Und wieder segnet Gottes Wort
durch Priestermund der Waffen Mord.

Und wieder weint sich Weib und Kind
im Abschiedsweh die Augen blind.

Und wieder Kampf und wieder Streit
und wieder Not und Herzeleid.

Und wieder unterm Todesjoch!
Wie l a n g e noch?
Wie lange n o c h ??

Anfang

Auf drei Rädern
(Jan Neruda)

Joza sitzt, der Wilddieb Joza,
froher Zecher, weit geachtet,
bei der schönen Schenkenwirtin,
die er höchst vergnügt betrachtet.

„Aber Frauchen!, eure Wangen
glühen Rosen gleich, den roten!“
„Herr, ihr scherzt! Mir Armen liegen
schon drei Männer bei den Toten.“

„Drei schon! Ei!! – Ihr bringt, so hör‘ ich
eure Männer rasch zum Schweigen!“
„Unsinn, Joza! Nur vermeid‘ ich’s,
selbst zuvor ins Grab zu steigen!

Seht, der erste kniete vor mir
in der Kirche auf den Stufen,
darum hat ihn Gott natürlich
auch vor mir schon abberufen!

Und der zweite wusch im Wasser
sich beim Festmahl beide Hände;
wer das tut, so geht die Sage,
nun, mit dem geht’s bald zu Ende!

In der Brautnacht hat den dritten
noch vor mir der Schlaf umfangen –
das bedeutet frühes Sterben.
Na, so ist’s halt zugegangen!“

„Potz, so jung! Und schon drei Tote!
Sagt, wenn ich nun ... trotz der dreie?“
„Glaubt doch nicht, dass ich mich fürchte,
wenn etwa ein vierter freie!“

„Nein? – Pass auf! Ich wär‘ imstande
und ich nähm‘ dich auf der Stelle!“
„Warum nicht? Ich fahr‘ nicht gerne
auf drei Rädern in die Hölle!“

Anmerkung: Frederic W. Nielsen hat in Prag mehrere Bände mit Nachdichtungen veröffentlicht, auch mit Versen von Josef Sládek und Otokar Fischer. Als nahezu vollkommen gilt seine Übersetzung der „Tiroler Elegien“ von Karel Havlícek Borovsky, die er Carl von Ossietzky gewidmet hat.
Milada Kourimská, Autorin der Nielsen-Monografie „Es begann in Prag“, schreibt dazu (in einem Brief an Martin Wehrle, Oktober 2002): „Havlícek war Journalist, er hatte eine scharfe Feder, kritisierte die alte Donaumonarchie und kannte keine Angst. Von der Bach-Regierung wurde er nach Brixen (Süd-Tirol) ausgewiesen. Nach seinem Tod (eine schnelle Tuberkulose infolge der Haft) wurde er als Nationalmärtyrer gefeiert. Deshalb auch Nielsens Widmung an Carl von Ossietzky. Die Übersetzung ist sehr gelungen (...), inhaltlich wie sprachlich einwandfrei.“
Die Kritik im Prag der 30er Jahre sah das ähnlich: „... Es ist schwer, von Übersetzungen zu sprechen. Vollkommen jede Zeile, treffend und originell ausgedrückt jeder Gedanke, ein einheitliches wunderbares Ganzes bildend.“ („Ceské Slovo“).

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