Biographie 
Der Verfasser stellt sich vor 
Interview 
Neuerscheinung 

 

Frederic W. Nielsen -
ein Don Quichotte der Menschlichkeit

von Martin Wehrle

Fritz Walter Nielsen war die Nummer 7, als Hitler 1939 in Prag einfiel, die Nummer 7 auf der Gestapo-Suchliste. Und er hat sich diesen Rang, auf den er ein Leben lang stolz war, redlich verdient in sechs kurzen und doch schmerzhaft langen Jahren im tschechischen Exil.
Verdient, indem er Himmler (in seinem Gedicht „Zu denken, dass...“) als Mörder von Zehntausenden anklagte, während das Ausland die Konzentrationslager noch für ein Gräuelmärchen der deutschen Emigranten hielt. Indem er Goebbels (durch seine Lesung „Buch in Flammen“) als Henker des deutschen Geistes verhöhnte, während der Propagandaminister vorgab, nur jüdischen und linksintellektuellen Unrat zu verheizen. Und indem er Hitler (in seinem „Appell an die Welt“) als Kriegstreiber entlarvte, während die Führer der Westmächte nach dem Münchener Abkommen den „Frieden in unserer Zeit“ bejubelten.
Nielsen machte die Feder, seine „einzige Waffe“, wie er oft sagte, zu einem scharfen Florett gegen die Propaganda der Nazis. Und er führte sie mit so viel Bravour, dass ihn die Prager Kritiker bald „in der allerersten Reihe der deutschen Lyriker“ sahen. Oft wurde er mit einem großen Vorbild, mit Heinrich Heine, verglichen.
Kein Wunder, dass Nielsens Bücher im Dritten Reich als „deutschfeindliche Hetzpropaganda“ verboten waren; dass er als „ausgesprochener Gegner des heutigen Deutschlands“ in den Akten stand; und dass seine mächtigen Gegner längst herausgefunden hatten, wer er wirklich war: Hinter „Fritz Walter Nielsen“, einem Pseudonym, verbarg sich Fritz Wallensteiner, eigentlich Schauspieler. Am 13. Oktober 1933, 30 Jahre alt, hatte er das Dritte Reich verlassen.

******

Die Vorstellung ist so groß, dass sie kaum in einen Kopf passt: Dieselben schlanken Finger, die 1938 einen offenen Brief an den US-Präsidenten Roosevelt tippten, um das Münchener Abkommen zu geißeln – genau diese Finger hämmerten 1991 erneut einen Brief an einen US-Präsidenten. Diesmal an George Bush senior, diesmal gegen den Golfkrieg.
Zwischen den beiden Briefen lag ein halbes Jahrhundert, das zweifellos ereignisreichste der Menschengeschichte. Zehn Präsidenten hatten die USA inzwischen regiert, sechs Kanzler die BRD. Doch er, Frederic W. Nielsen, ein Don Quichotte der Menschlichkeit, saß nach wie vor hinter einer mechanischen Schreibmaschine und hämmerte gegen Krieg, Unrecht und Unterdrückung an. Seinem Brief an Bush, einer Anklage des provozierten Krieges gegen den Irak, legte er seinen amerikanischen Pass bei – ausgerechnet jenen Pass, der ihn nach dem Zweiten Weltkrieg vom Fritz zum „Frederic“ gemacht und ihm das Tor in die Freiheit geöffnet hatte.
Das Exil über den Krieg hinaus - nur schweren Herzens hat Nielsen es der geliebten Heimat vorgezogen; nur deshalb, weil sich in Deutschland, wie er von Peter Suhrkamp erfuhr, die alte Elite an der Macht gehalten hatte. Dieselben Münder, die gestern noch „Heil Hitler!“ und „Juda verrecke!“ gebrüllt hatten, schworen nun Eide auf das Grundgesetz.
Kein Platz für einen Emigranten, der – wie Nielsen es manchmal sarkastisch sagte – alles besser gewusst und damit auch noch recht behalten hatte. So wanderte er 1949 von England, wo er nach seiner Flucht aus der Tschechoslowakei die meiste Zeit des Krieges verbracht hatte, in die USA aus und wurde Abteilungsleiter bei einer Wallstreet-Bank. Erst 1960 kehrte er nach Deutschland zurück und nahm, verstärkt nach seiner Pensionierung im Jahr 1969, den Faden seiner Schriftstellerei wieder auf.

******

Was Fritz Walter Nielsen am 13. Oktober 1933 ins Exil trieb, war seine Empörung über die Nazis. Schon die Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ hatte ihn entsetzt. Der Krieg um den Lebensraum, die Vernichtung der Juden: All das Un-„Heil“, mit dem Hitler die Welt erschüttern würde, warf in der Nazi-Bibel seit 1925 seine gespenstischen Schatten voraus.
So wenig er den Versprechungen glaubte: Hitlers Drohungen nahm Nielsen seit 1933 bitter ernst. Hatte er nicht miterlebt, wie Anfang des Jahres die Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit beschnitten wurden? Wie am 27. Februar der Reichstag brannte und mehr als 5.000 politische Gegner der Nazis in „Schutzhaft“ landeten? Und wie schließlich, am 24. März, das Ermächtigungsgesetz in Kraft trat – jenes Gesetz, mit dem Hitler, wie Nielsen immer betonte, keineswegs die Macht ergriffen hat, sondern sie von den Deutschnationalen, dem Zentrum (heute CDU/CSU) und der Deutschen Volkspartei (heute FDP) „auf dem Silbertablett serviert“ bekam? Nach dem öffentlichen Judenboykott wurde schließlich auch noch „der deutsche Geist ... vom braunen Ungeist verbrannt“.
Frederic W. Nielsen wollte nicht erst zu löschen beginnen, wenn auch das eigene Haus brannte. Vielmehr hielt er es mit Bertha von Suttner, der von ihm oft zitierten (und später auch in einem Buch porträtierten) Nobelpreisträgerin: „Gegen Unrecht, wenn man es als solches erkennt, muss man sich wehren!“
So ließ er seine geliebte Mutter und seine Ambition, Schauspieler oder Regisseur zu werden, in Stuttgart zurück - und setzte sich in den Zug nach Prag. Wohlgemerkt: Hier ging kein Schriftsteller ins Exil - hier wurde ein Exilant zum Schriftsteller! Hier wagt sich einer, der in Deckung saß, hinaus vors Visier der Nazis. Nur um andere Leben zu retten, brachte Nielsen sein eigenes in Gefahr. Schon dieser humanistische Wagemut verleiht ihm eine Ausnahmestellung in der deutschen Exilliteratur.

******

Der Tag, an dem Nielsen als Dichter verstummte, war ein unheilvoller Tag für die Welt: der 1. September 1939, der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Ein letztes Gedicht warf er noch auf Papier, einen verzweifelten Aufschrei gegen den Krieg („Und wieder“). Dann schwieg Nielsen als Lyriker - er, der in sechs Jahren drei Bände mit Gedichten (und mehrere mit Nachdichtungen aus dem Tschechischen) gefüllt hatte, schrieb in den nächsten 30 Jahren nicht einen Vers mehr.
Nun ist Adornos Diktum, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, ebenso bekannt wie umstritten. Was aber hat Nielsen, ganz im Sinne des Frankfurter Philosophen, schon 1939 dazu gebracht, sich der Lyrik abzuwenden?
Gedichte schienen ihm, wie er später sagte, in dieser Situation wirkungslos, ja geradezu unangemessen. Ähnlich hat das Kurt Tucholsky gesehen, als er über Kästner schrieb: „Da pfeift einer, im Sturm, bei Windstärke 11 ein Liedchen.“ Und Brecht hat im Svendborger Exil notiert: „In meinem Lied ein Reim / Käme mir fast wie Übermut vor.“
Gedichte schreiben nach Kriegsbeginn – das schien Nielsen nicht barbarisch, aber wirkungslos. Und damit kam es für ihn nicht mehr in Frage. Denn er schrieb nicht, um zu schreiben (wie viele Autoren). Er schrieb nur, um zu wirken, das heißt: um die Wirklichkeit zu verändern. Deshalb war er emigriert, deshalb Schriftsteller geworden: Er wollte das Un-„Heil“, das durch Hitler drohte, im letzten Moment abwenden. Umso mehr, nachdem nun geschehen war, wovor Nielsen so lange gewarnt hatte: Durch seinen Angriff auf Polen hatte Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselt.
Statt an die Gefühle seiner Leser zu appellieren, wie in seinen Gedichten, oder an ihren kritischen Humor, wie im „Peter Bohnenstroh“, setzte Nielsen seine letzte Hoffnung auf den Verstand und die intellektuelle Einsicht - wie schon 1934 in seiner literarischen Montage „Buch in Flammen“ (erst in deutscher, dann auch in tschechischer Sprache), in der er die Stimmen der verbrannten Dichter gegen das Dritte Reich hatte schmettern lassen. Und wie vor allem 1938 in seinem „Appell an die Welt“, drei Offenen Briefen an Roosevelt, Daladier und Chamberlain, in denen er die Folgen des Münchener Abkommens haargenau voraussagte.
Schon früh hatte Nielsen der tschechischen Regierung angeboten, im Kriegsfall einen Propagandasender gegen die Nazis zu leiten. Man war einverstanden. Aber der deutsche Einmarsch machte diese Pläne zunichte. Später in England sprach Nielsen mit denselben Plänen vor. Doch er, der als „feindlicher Ausländer“ galt, wie alle Emigranten aus Deutschland, – er musste eher damit rechnen, hinter Stacheldraht zu landen (was schließlich auch geschah), als dass er seine Fähigkeiten für England und gegen die Nazis hätte einsetzen dürfen.
Also blieb Nielsen nichts übrig, als seine Vorschläge, wie der Krieg zu führen, Hitler zu stoppen und Europa neu zu ordnen sei, in seinem Tagebuch und in Leserbriefen festzuhalten. Zugleich beschrieb er sein Schicksal als Emigrant, seinen Alltag als Fabrikarbeiter, seine Diskussionen mit den unpolitischen Kollegen und seine Internierung in Kanada, bei der er mit Nazis unter einem Dach schlafen sollte. Ende der 70er Jahre ist dieser Emigrationsbericht, das Hauptwerk Nielsens, bei Bläschke unter dem Titel „Emigrant für Deutschland“ erschienen.

******

Im Jahr 1988 bin ich Frederic W. Nielsen zum ersten Mal begegnet. Ich stieß auf einen Mann im 85. Lebensjahr, der alles mögliche war, nur kein älterer Herr im Ruhestand. Immer noch sprudelte in ihm dieselbe Energie wie damals, als ihn die Empörung ins Exil getrieben hatte; immer noch war er ein humanistischer Überzeugungstäter, den seine Ideale mit immenser Tatkraft speisten.
Damals hatte Nielsen gerade den Sammelband „Gedanken eines Unbequemen“ vollendet und schrieb an seinem nächsten Buch, einem „Offenen Brief an das Nobel-Komitee“, in dem er Michail Gorbatschow für den Friedensnobelpreis 1989 vorschlug (erst ein Jahr später, für Gorbatschow wahrscheinlich zu spät, folgte das Komitee seiner Anregung). Derweil war das übernächste Buch, seine Jugenderinnerung „Beschattete Täler“, schon in Planung. Nebenbei heizte er politische Debatten um Geschichtsfälschung mit Leserbriefen an, verschickte kritische Briefe an Prominente und hielt Lesungen so oft es ging. Er bewältigte ein Arbeitspensum, unter dem mancher 30-Jährige zusammengebrochen wäre.
Wenn Nielsen in unseren Gesprächen auf die Vergangenheit zurückblickte, dann nicht, um verbittert zu sagen: „Hätte die Welt doch auf mich gehört...“ Er plädierte dafür, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Damit all die Opfer, die Krieg und Rassenwahn gefordert hatten, nicht umsonst waren. Damit die Fehler von gestern nicht morgen erneut passieren würden. Sein persönliches Motto: „Nur wer die Vergangenheit kennt, schützt die Gegenwart vor einer atomverseuchten Zukunft“.
Doch die Gegenwart Ende der 80er Jahre machte ihm wenig Hoffnung. Während Gorbatschow abrüsten und die Raketen begraben wollte, hielt die Nato stur an ihren Atomwaffen und am alten Feindbild Russland fest. Und in Deutschland wurden, spätestens nach der Wiedervereinigung, zwei aus dem Historikerstreit um Ernst Nolte bekannte Gruppen immer lauter: die einen, die beim Blick aufs Dritte Reich alles abstritten, sogar die Kriegsschuld und die KZs – und die anderen, die zwar „Verfehlungen“ einräumten, aber jetzt umso energischer nach einem „Schlussstrich“ riefen.
Diese Geschichtsverleugnung und geistige Brandstiftung, gegen die Nielsen seit seiner Rückkehr nach Deutschland gekämpft hatte, griffen bald auf die Straße über. Er, der Emigrant von einst, musste fassungslos mit ansehen, wie Asylanten durch deutsche Straßen gehetzt wurden, wie ihre Unterkünfte in Flammen aufgingen, wie Passanten die Mordanschläge mit Beifall begleiteten und wie die verantwortlichen Politiker der Kohl-Regierung, statt den rechten Mob zu bändigen, nur nach einem schärferen Asylrecht schrieen. Die Sorge der Herrschenden galt nicht dem Leben der Asylanten (wieder „unerwünschte Ausländer“, wie einst Nielsen in England) – sie galt nur dem „deutschen Ansehen“ im Ausland.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1996 hat Frederic W. Nielsen das politische Geschehen kommentiert, scharfsinnig, kritisch und kompromisslos. In welcher Rolle er sich sah, daran hat er nie einen Zweifel gelassen: als „Warner in der Wüste“. So hat er auch eines seiner späten Bücher genannt.

Dieser biographische Abriss ist fürs Internet gekürzt. In ganzer Länge können Sie ihn lesen im Vorwort des Geburtstags-Sammelbandes „Appelle an die Welt - 100 Jahre Frederic W. Nielsen“.

Text als PDF downloaden Impressum